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Von: Karsten-Dirk Hinzmann
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Auf dem Papier schwächer, aber unschlagbar preiswert: Die Bohdana-Haubitze der Ukraine schlägt die Caesars und Archers um Längen. Ein Erfolg gegen Putin.
Kiew – „Es ist völlig inakzeptabel, dass so viele Länder in der Welt noch immer darüber nachdenken, wie sie dem Terror entgegenwirken können, obwohl es nur ein paar politische Entscheidungen braucht“, sagt Wolodymyr Selenskyj. Der deutsche Bundeswehr-Verband hat aufgegriffen, was in der einen oder anderen Form seit Monaten durch die Medien geistert: die Frustration der Ukraine darüber, im Kampf gegen Wladimir Putin vom Westen abhängig zu sein. Aber der Überfall auf die Region Kursk war ein deutlicher Hinweis auf die Emanzipation der Armee der Ukraine –in Taktik und Ausrüstung. Jetzt baut sie auch ihre eigene Artillerie auf – wohingegen Russland anfängt, sich an den Tropf seiner Partner zu hängen. Zeitenwende.
Mithilfe der deutschen Rüstungsschmiede Rheinmetall hat die Ukraine begonnen, 152-Millimeter-Artilleriegranaten zu produzieren. Ein Novum für das ehemalige Satellitenland der Sowjetunion, das militärisch gezwungenermaßen hauptsächlich auf das 122- und 152-Millimeter große Kaliber gesetzt hat. Die Ukraine schiebt sich insofern näher an die Nato heran. Auch die F-16-Kampfjets werden wohl langfristig die Luftwaffe der Ukraine bestücken. Jetzt setzt die Ukraine vor allem in ihrer Artillerie auf Selbstversorgung, wie das Magazin Forbes berichtet.
Kein Caesar, kein Archer: Ukraine setzt auf Haubitzen aus eigener Produktion
Seit Kriegsbeginn habe sich die Ukraine auf den Ausbau ihrer eigenen Produktionskapazitäten für 155-mm-Artilleriegeschosse fokussiert und will sich von Modellen wie dem Caesar und dem Archer lösen. Wie Oleksandr Kamyshin aktuell geäußert hat, sei die Ukraine jetzt in die Serienproduktion von 155-mm-Geschosseneingestiegen – die Verteidiger versorgen sich jetzt also selbst mit dem Nato-Standard-Kaliber –und wollen die Produktion rasant steigern, wie der Berater des Präsidenten gegenüber Forbes äußert. Die deutsche Rüstungsschmiede Rheinmetall hatte bereits vor einiger Zeit angekündigt, einen Produktionsstandort in die Ukraine zu verlegen, um die Logistik-Kette zur verkürzen. Die Ukraine plant, künftig den Bedarf aus eigenen Mitteln decken zu können.
„Ich habe bereits an der Front gekämpft. Ich hatte die Waffen bereits. Ich wusste bereits, wie effektiv und sicher sie sind und dass alles besser und bequemer sein kann. Ich kam auf die Idee, die Waffen auf den Lastwagen zu stellen. Wir haben sie gebracht, renoviert und installiert.“
Die Ukraine will aber auch an Haubitzen Autonomie zurückgewinnen und sich vom Mäzenatentum der Westmächte abnabeln – so durchschlagskräftig die Caesars, Archers oder Haubitzen 2000 der Nato-Partner auch sein mögen. Die selbstfahrende Radhaubitze 2S22 Bohdana im Kaliber 155 mm ist eine ukrainische Entwicklung, die in den letzten Monaten Aufmerksamkeit erregte, wie das Magazin Defense Network berichtet. Demnach hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj davon gesprochen, bis zu zehn Systeme pro Monat produzieren zu wollen. In erster Prototyp der 2S22 Bohdana sei 2018 in Kiew vorgestellt worden. Anfang 2023 habe die Ukraine die Serienproduktion gestartet.
Grundlage ist nach Medienberichten das Fahrgestell des im Inland produzierten allradgetriebenen 6x6-Militärlastwagen KrAZ-6322. Diese Designentscheidung soll Autonomie gegenüber ausländischen Teilen versprochen haben und die Produktionsreife verkürzen gegenüber einem aufwändig zu gestaltenden Kettenfahrgestell – auch Rheinmetall setzt ja für die Nachfolge der Panzerhaubitze 2000 auf das radgetriebene System des Boxer. Allerdings existieren Bilder davon, dass das Artilleriesystem auch auf verschiedenen anderen Trägern verlastet werden kann – beispielsweise auf einem 8x8 Tatra T815-7-Fahrgestell.
Masse –ohne vermeintlichen Verlust von viel Klasse: Lieber die Bohdana als Deutschlands Haubitze 2000
Erstaunlich – oder verständlich –scheint zu sein, dass die Ukraine mit den „Schwächen“ dieses Systems offenbar leben kann, wie Defense Network schreibt. Auffällig sei demnach der „geringere Grad der Automatisierung“ – im Gegensatz zum schwedischen Archer-System müssten die ukrainischen Artilleristen zum Schießen ihre Kabine verlassen. Was einen langsameren Stellungswechsel zur Folge hat und somit eine höhere Verwundbarkeit. Möglicherweise ein Ausweis der östlichen Militärdoktrin, nach der der Schutz eigener individueller Kräfte einen niedrigeren Stellenwert genießt als im Westen.
Auch die Feuerrate und Ladekapazität sollen niedriger sein als die der westlichen Pendants: Defense Network vergleicht sie beispielsweise mit der deutschen RCH 155 –die soll schneller schießen können, zehn Schuss mehr mitführen und schneller fahren –obwohl sie schwerer sein soll. Dafür stellt die Ukraine für eine RCH 155 fünf bis zehn Bodhana auf die Räder. Oder zwei im Vergleich zum schwedischen Archer oder der französischen Caesar. Also Masse –ohne vermeintlichen Verlust von viel Klasse.
Für die Ukraine ist die Waffe neben den Drohnen der nächste Hoffnungsträger –statt westlichen Importen wir der Haubitze 2000. Laut der Kyiv Independent will die Ukraine Europas Klassenprimus in der Produktion von Haubitzen werden. Allerdings fehlte der Ukraine wohl bislang das Geld, um die heimische Rüstungsproduktion bezahlen zu können. Dänemark war einer der spendabelsten Nato-Partner für die Produktion der Bodhana, auch private Unternehmen aus der Ukraine investieren via Crowfunding.
Offensive dank Sowjetbeständen: Russlands Taktik geht kaum mehr auf
Trotz der unterschiedlichen Ressourcen beider Kriegsparteien scheint sich eine Zeitenwende abzuzeichnen. Das Institute for die Study of War (ISW) beobachtet aktuell, dass sich die Ukraine bezüglich der Drohnen-Technologie sowie der Artillerie auf eigene industrielle Kräfte verlässt und auch eine eigene Alternative zum deutschen Taurus-Marschflugkörper entwickelt. Demgegenüber wird Russland „wahrscheinlich vor wachsenden Herausforderungen bei der Produktion und Beschaffung des Materials stehen, das für die russischen Operationen in der Ukraine erforderlich ist, und der Kreml wird wahrscheinlich zunehmend auf ausländische Partner angewiesen sein, um seinen Materialbedarf zu decken“, wie das ISW schreibt..
Demnach habe Russland seine rasante Offensive vor allem auf Sowjetbestände und deren Aufarbeitung beziehungsweise Modernisierung verlassen – allerdings gehen durch Russlands Taktik der schieren Masse auch diese Bestände zur Neige. „Die russische Regierung wird wahrscheinlich die russische Wirtschaft und Rüstungsindustrie weiter mobilisieren und in den Kapazitätsaufbau investieren müssen, wenn das russische Militär sein derzeitiges Operationstempo mittel- bis langfristig aufrechterhalten will, während Russland seine begrenzten sowjetischen Vorräte aufbraucht“, bilanziert das ISW.
Russland abhängig von Nordkorea: Putins Haubitzen ohne Lieferung aus Nordkorea wirkungslos
Das ISW zitiert das kremlnahe MediumIswestijavon Dezember 2023 damit, dass Russland in diesem Jahr wohl fast fünf Millionen Fachkräfte fehlen würden. Der Mangel sei teilweise kriegsbedingt und würde zunehmen. Aber auch hier streiten die Experten. Laut dem Nachrichtensender CNNgehe die Nato davon aus, dass die russische Kriegsmaschinerie der der Nato uneinholbar voraus liege; einer hochrangigen Nato-Quelle nach betreibe Russland seine Artilleriefabriken „rund um die Uhr“ in wechselnden Zwölf-Stunden-Schichten, wieCNNschreibt. Geschätzte 3,5 Millionen Russen arbeiteten derzeit im Rüstungssektor, vor dem Krieg sollen das mindestens eine Million Menschen weniger gewesen sein.
Daneben importiere Russland auch Munition: DerIranlieferte demzufolge im vergangenen Jahr mindestens 300.000 Artilleriegeschosse – „wahrscheinlich sogar mehr“, sagte der Militär lautCNN–und Nordkorea lieferte mindestens 6.700 Munitionscontainer mit Millionen von Geschossen. Tatsächlich macht sich das russische Regime abhängig von Importen aus dem befreundeten Ausland – wobei zu beachten sein wird, was der Iran weiter wird liefern können, wenn sich das Land in einen Konflikt mit Israel hineinziehen lässt.
Nach Berechnungen des Thinktanks Royal United Service Institutes (RUSI)benötigt Russland permanent 5,6 Millionen Artillerie-Granaten, um seinen bisherigen Angriffsschwung beizubehalten und ein schnelles Ende des Ukraine-Krieges zu erzwingen:„Um sein Ziel zu erreichen, im Jahr 2025 erhebliche Gebietsgewinne zu erzielen, hat das russische Verteidigungsministerium einen industriellen Bedarf zur Herstellung oder Beschaffung von etwa vier Millionen 152-mm- und 1,6 Millionen 122-mm-Artilleriegeschossen im Jahr 2024 ermittelt“, schreiben dieRUSI-Autoren JackWatlingundNickReynolds.
Kein Ukraine-Krieg ohne Do-It-Yourself-Lösungen: Rüstungsindustrie der Ukraine noch am Anfang
Der Weg zu einer reibungslosen eigenen Rüstungsindustrie ist aber noch lang – zumal zu einer nach Nato-Standard. Bis dahin hilft sich die Ukraine bisweilen noch mit Do-It-Yourself-Lösungen. Je älter der Krieg, desto zusammengezimmerter die Waffensysteme auf beiden Seiten. Einer der Unterstützer derUkraineist beispielsweise der heimische Spirituosen- und Delikatessenvertrieb „Okwine“. Wie er auf seiner Website ausführlich beschreibt, hat dessen Wohltätigkeitsstiftung im vergangenen Sommer ein Sonderprojekt realisiert:
Innerhalb von drei Monaten hatte „Okwine“ einen vierachsigen tschechischen Tatra 815 mit normaler Pritsche umrüsten lassen in eine hochmobile 100-mm-Flugabwehrkanone. „Okwine“ betrachtet sich als Mäzen der Artilleriebatterie der 241. Brigade der ukrainischen Streitkräfte und will allein in den Kauf des Fahrzeuges 30.000 Euro investiert haben. Gerade die Artilleristen der 241. Brigade scheinen zur Improvisation gezwungen zu sein –das jedenfalls erzählte Unteroffizier Evegeny Iitvin dem MagazinDaily Beast–demnach seien sie immer wieder angewiesen auf Waffen auch aus der Sowjetzeit.
Im vergangenen März erhielten sie, nach Iitvins Angaben, vier KS-19-Flugabwehrkanonen; Waffen, die in den 1950er-Jahren hergestellt wurden. LautDaily Beastbesorgte sich Iitvin dann einen Lkw ausTschechienund leitete die Umbauten: „Ich habe bereits an der Front gekämpft. Ich hatte die Waffen bereits. Ich wusste bereits, wie effektiv und sicher sie sind und dass alles besser und bequemer sein kann. Ich kam auf die Idee, die Waffen auf den Lastwagen zu stellen. Wir haben sie gebracht, renoviert und installiert.“